Saarbrücken, Landtag, 27.01.2020
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrte Mitglieder des Landtags, sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Schülerinnen und Schüler!
Fred Salmon war acht Jahre alt, als er am frühen Morgen des 22. Oktober 1940 von seinen Gasteltern in Mannheim geweckt wurde. „Mach Dich fertig, wir müssen weg!“ Viel Zeit sei nicht, er solle sich schnell anziehen, sein Köfferchen packen, sagte man ihm.
Die Frage des Jungen „Wohin?“ konnten die Gasteltern nicht beantworten. Auch sie wussten es nicht. Bald stand er da, mitten unter fremden Leuten, mit denen er schließlich zum Bahnhof gebracht wurde. Dann ging‘s in den Zug mit unbekanntem Ziel. Zu Hause in Homburg war es seinen Eltern, der alten Großmutter und der kleinen zweijährigen Schwester genauso ergangen. Fred hatte 1938 die Volksschule in Homburg verlassen müssen, weil jüdische Kinder dort nicht mehr unterrichtet wurden. Seine Eltern, der Kaufmann Carl Salmon und seine Frau Liesel, brachten ihn nach Mannheim, wo es noch eine jüdische Schule gab.
Nach drei Tagen landete Fred mit all den Badenern und Saarpfälzern in einem großen Barackenlager in Südwestfrankreich, in Gurs. Seine Eltern waren in all den Tagen in großer Aufregung, wie es wohl ihrem Sohn ergehen würde. Zum Glück fanden sie ihn in Gurs.
In diesem Jahr jährt sich die erste große Deportation von Juden aus dem Deutsch Reich zum 80. Mal. Nach jahrelanger Verfolgung und Demütigung durch die Nationalsozialisten, nach der Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz wurden im Herbst 1940 über 6.500 Juden aus ihrer pfälzischen, badischen und saarländischen Heimat in das Lager Gurs im unbesetzten Frankreich verschleppt. Für viele nahm diese Reise später in Auschwitz und Majdanek ein grausames Ende.
Die Mitglieder der jüdischen Gemeinden im Saarland wussten nach der Abstimmung im Januar 1935, dass es für sie keine Zukunft im NS-Staat geben würde. Die meisten verließen ihre Heimat in den Jahren 1935 und 1936. Aufgrund der polizeilichen Abmeldungen konnten am 24. Februar 1936 insgesamt 4.644 Abwanderungen aus dem Saarland festgestellt werden. Die meisten emigrierten nach Frankreich. Die Hälfte von ihnen waren Juden. Unter den nichtjüdischen Emigranten waren viele Sozialdemokraten und Kommunisten, die für die Beibehaltung des status quo gestimmt hatten. Dass auch viele von ihnen einmal in einem französischen Lager landen würden, konnte sie nicht ahnen.
Das in der Nähe des Dorfes Gurs im Südwesten Frankreichs gelegene Lager wurde zu Beginn des Jahres 1939 für Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkrieges angelegt. Nach Kriegsende und der Eroberung Kataloniens durch die Truppen Francos flüchtete fast eine halbe Million Menschen über die spanische Grenze nach Frankreich. Neben vielen Spaniern der zerschlagenen republikanischen Armee waren es Tausende von Freiwilligen aus verschiedenen Nationen, die in der Internationalen Brigade gekämpft hatten, unter ihnen über 700 Deutsche. Max Hewer weiß von etwa 243 saarländischen Spanienkämpfern. Die Département-Verwaltung bemühte sich um eine Reduzierung der Zahl der Lagerinsassen. Manche kehrten in ihre Heimat zurück, andere erhielten Arbeitsplätze in der Region, wiederum andere schlossen sich der Fremdenlegion an oder kamen in verschiedene Arbeitseinsatzgruppen für Ausländer. Ende April 1940 lebten nur noch etwa 2.300 Flüchtlinge im Lager Gurs.
Mit Beginn des Krieges internierte die französische Regierung die seit 1933 aus dem Deutschen Reich, seit 1935 aus dem Saargebiet und seit März 1938 aus Österreich in Frankreich lebenden Flüchtlinge als „feindliche Ausländer“. So kamen im Mai und Juni 1940 12.680 Personen nach Gurs. Unter ihnen waren Hunderte von Saarländerinnen und Saarländern. In der Lagerkartei von Gurs, die sich im Departementsarchiv in Pau befindet, wurden sie als „sarrois“ oder sarroise“ bezeichnet.
Genaue Zahlen sowie weitere Details zu diesem Personenkreis kann ich erst nach Abschluss meines Projekts liefern, an dem ich gerade im Auftrag Ihres Ministeriums für Bildung und Kultur und in enger Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung arbeite. Ich danke in diesem Zusammenhang Frau Dr. Sabine Graf für viele wertvolle Hinweise, z. B. auf die Akten des Landesentschädigungsamtes im Landesarchiv Saarbrücken.
Nach dem Frankreichfeldzug wurden drei Fünftel Frankreichs von deutschen Truppen besetzt und einem Militärbefehlshaber in Paris unterstellt, während das verbliebene, unbesetzte Gebiet im Süden von einer französischen Regierung unter Staatschef Pétain in Vichy verwaltet wurde. Hitler ernannte am 2. August 1940 den Gauleiter der Saarpfalz, Josef Bürckel, zum „Chef der Zivilverwaltung in Lothringen“ und den Gauleiter von Baden, Robert Wagner, zum „Chef der Zivilverwaltung im Elsaß“. Von ihnen wurde verlangt, die annektierten Gebiete rasch „einzudeutschen“ und so kam es, dass die beiden innerhalb weniger Wochen über 23.000 der NS-Regierung missliebige Franzosen, vor allem Juden, in das unbesetzte Frankreich auswiesen.
Bald darauf beschlossen Bürckel und Wagner, die Juden aus Baden und der Saarpfalz ebenfalls nach Vichy-Frankreich abzuschieben.
Am 20. Oktober 1940 soll Bürckel in Metz den Ausweisungsbefehl unterzeichnet haben. Zwei Tage später wurden die in der Pfalz, in Baden und im Saarland lebenden „transportfähigen Volljuden“, so heißt es in einem Merkblatt für die eingesetzten Beamten, in ihren Wohnungen festgenommen und abtransportiert. „Ausgewiesen“, so hieß es, „werden nur Volljuden. Mischlinge, Angehörige von Mischehen und ausländische Juden, soweit es sich nicht um Ausländer der Feindstaaten und der von uns besetzten Gebiete handelt, sind von der Aktion auszunehmen. Staatenlose Juden werden grundsätzlich festgenommen. Jeder Jude gilt als transportfähig; ausgenommen sind nur die Juden, die tatsächlich bettlägerig sind.“ Die Festgenommenen mussten innerhalb kurzer Zeit abmarschbereit sein. Jede erwachsene Person durfte nur einen Koffer bis zu 50 kg, Kinder bis 30 kg mitnehmen sowie eine Wolldecke, Verpflegung für mehrere Tage, Ess- und Trinkgeschirr, bis zu 100 RM Bargeld sowie Ausweispapiere.
Aus dem Saarland wurden nach den vorhandenen Listen 134 Personen deportiert, die meisten waren aus Illingen (19), Merchweiler (17), Homburg und Ottweiler (jeweils 15) aus Neunkirchen (11), Nalbach (9), Saarwellingen (8), Merzig (7), Saarbrücken, Brotdorf und Siersburg (jeweils 6), Differten, St. Wendel und Tholey (jeweils 4), St. Ingbert (2) sowie je eine Person aus Höcherberg und Wiebelskirchen. Die ältesten waren der 88jährige Josef Kahn aus Brotdorf und der 85jährige Samuel Weiler aus Nalbach, die jüngsten der 15jährige Erwin Weiler aus Merchweiler, die 13jährige Lucie Alexander aus Illingen, die Geschwister Lore (13), Werner (11) und Herbert (8) Schwarz aus Merchweiler, der 10jährige Edi Hermann aus Neunkirchen, der 6jährige Hjalmar Maurer aus Neunkirchen und die 2jährige Mathel Salmon aus Homburg.
Die im Saarland festgenommenen Juden wurden mit Bussen nach Forbach gebracht, wo sie in einen der beiden aus der Pfalz kommenden Züge kamen, die zuvor über 800 pfälzische Juden aufgenommen hatten. Von Forbach ging die Reise weiter über Metz, Nancy, Dijon, Lyon, Narbonne, Carcassonne, Toulouse und Pau nach Oloron-Sainte-Marie am Rande der Pyrenäen, wo sie am 25. Oktober 1940 ankamen. Von dort wurden sie mit Lastwagen in das 13 km entfernte Lager Gurs gebracht. Gurs hatte keinen Bahnanschluss. Das Gleisstück, das man in Gurs sieht und das am Freitag auch in der Saarbrücker Zeitung abgebildet war, ist nicht authentisch. Es erinnert höchstens an das spätere Schicksal der meisten jüdischen Gurs-Internierten, die über das Lager Drancy mit Zügen nach Auschwitz gebracht wurden.
Am 29. Oktober 1940 informierte Reinhold Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, das Auswärtige Amt in Berlin, dass am 22./23. Oktober 6.504 Juden aus Baden und der Saarpfalz - ich zitiere - „im Einvernehmen mit den örtlichen Dienststellen der Wehrmacht, ohne vorherige Kenntnisgabe an die französischen Behörden, in den unbesetzten Teil Frankreichs...gefahren wurden“. „Die Abschiebung“ sei in allen Orten Badens und der Pfalz reibungslos und ohne Zwischenfälle verlaufen.
Das Vermögen und der Besitz der deportierten Menschen wurde gemäß einer Verfügung Himmlers vom 9. November 1940 beschlagnahmt und in die Obhut von Treuhändern gegeben, die es verwalteten und später versteigerten. Für die Verwertung des von den Deportierten zurückgelassenen Besitzes setzte Regierungspräsident Karl Barth, übrigens später, von 1956 bis 1961, Landrat des Kreises Saarbrücken, Gauwirtschaftsberater Wilhelm Bösing als Treuhänder ein. Die Landräte und Oberbürgermeister der Saarpfalz wurden als Untertreuhänder bestellt. Der Hausrat der deportierten Juden wurde im Frühjahr 1941 in den einzelnen Orten meistbietend versteigert; bald darauf auch die verbliebenen Immobilien.
Indessen litten die Menschen in Gurs unter den katastrophalen hygienischen Zuständen, der mangelhaften Verpflegung und der schlechten medizinischen Versorgung. Erna Berl, die aus St. Wendel deportiert wurde, schrieb am 6. November 1940 an ihren Sohn Fritz: „Es ist ein großes Unglück über uns gekommen, hoffentlich ertrage ich es, wir liegen auf Stroh und mit den Kleidern...musste mein Heim verlassen, morgens um 7 bin ich abgeholt worden, Frl. Bruch und Frau Reuter haben mich angezogen, statt Kleider haben sie mir Bettwäsche eingepackt, wenn Ihr könnt, sendet mir Lebensmittel und Geld...Ich habe alles zurücklassen müssen mit allen meinen schönen Sachen, die ich so in Ehren hielt… und jetzt stehe ich vor einem Nichts. Ob ich es ertrage mit meinen Kräften… Ein namenloses Elend… meine Nerven versagen, wenn der Abend kommt...“
Der Beauftragte einer Schweizer Hilfsorganisation schrieb im Januar 1941 über das Lager Gurs: „Die niederen Holzbaracken sind von primitivster Bauart, mit undichten Wänden, durchlöchertem Boden. Ursprünglich hatten sie keine Fenster und auch jetzt besitzen nur wenige diesen Luxus, so dass die Insassen sich den ganzen Tag in völliger Dunkelheit befinden... Die wenigen Waschgelegenheiten befinden sich außerhalb der Baracken und sind sehr oft defekt...Die W. C. befinden sich ebenfalls außerhalb der Baracken und sind halb offene Verschläge mit Kübeln...Das Allerschlimmste ist der Lehmboden, der durch die vielen Regenfälle und durch das viele Begehen in ein Schlamm-Meer verwandelt wurde, das vielfach ganz unpassierbar ist und das bewirkt, dass das Herausgehen aus den Baracken für die Alten und Schwachen zur Unmöglichkeit wird. Die ...gesundheitlichen und hygienischen Zustände sind unbeschreiblich... Wer auf die Lagerkost allein angewiesen ist, der geht mit Sicherheit in wenigen Monaten zugrunde.“
Zahlreiche Menschen starben in Gurs schon nach wenigen Tagen, unter ihnen der 88jährige Joseph Kahn aus Brotdorf und der 85jährige Samuel Weiler aus Nalbach, wie auch Fred Salmons Oma Rosa.
Aus den Dossiers der Gurs-Internierten, die ich im Archiv in Pau einsehen konnte, erhält man einen Begriff von der verzweifelten Lage, in der sich die Menschen befanden. Ungezählte Anträge auf Entlassung wegen beabsichtigter Auswanderung oder die Bitten um vorübergehende Beurlaubung, um sich einige Tage in einem Ort außerhalb des Lagers aufhalten zu dürfen. Einige kamen auch in benachbarte Krankenhäuser, wo manche bald nach ihrer Einlieferung verstarben. Einige wenige christliche Frauen, die mit einem jüdischen Mann verheiratet waren, wurden nach Hause entlassen, wie z. B. die aus Völklingen stammende Anna Heymann, die katholisch war. Sie konnte nach Saarbrücken zurückkehren.
Dem Bericht eines portugiesischen Rot-Kreuz-Delegierten zufolge befanden sich zu Beginn des Jahres 1941 12.000 Internierte in Gurs, das täglich höchstens für 8-9.000 Personen Verpflegungsrationen erhielt. Die Unterbringung sei miserabel. „Auch die Lage der etwa 500 Kinder ist erbarmungswürdig“, schrieb er und empfahl „die umgehende und reichliche Absendung von Lebensmitteln für besonders dringend. Nur so können zahlreiche Insassen vor dem Untergang bewahrt werden.“
Die Hilferufe wurden gehört. Am Broadway in New York wurde die Geschäftsstelle der „Baden-Pfalz-Hilfe“ eingerichtet, die Auskünfte über internierte Personen gab und Hilfssendungen weiterleitete. Die Organisation „Self-Help“ versuchte von New York aus, Gurs-Internierte in die USA zu retten. Hilfe kam von verschiedenen kirchlichen und anderen karitativen Organisationen. Die OSE, ein jüdisches Kinderhilfswerk, die amerikanischen Quäker, das Französische Rote Kreuz, die katholische und die reformierte Kirche Frankreichs verteilten Tonnen von Lebensmitteln. Das Schweizer Kinderhilfswerk sandte Schwester Elsbeth Kasser, die viel Gutes im Lager tat und nicht umsonst als „der Engel von Gurs“ bezeichnet wurde. In Gurs gab es bald auch ein kleines kulturelles Angebot, eine Leihbibliothek wurde eingerichtet, Konzerte, Theateraufführungen und Lesungen wurden veranstaltet.
Dankbar erinnert sich Hanna Schramm an diese Hilfsmaßnahmen: „Die materielle und kulturelle Hilfe all dieser Organisationen war gewiss für uns außerordentlich wertvoll, aber wohl keinem der Mitarbeiter mag es bewusst geworden sein, welch ungeheurer Trost ihre Anwesenheit im Lager für uns war….Wir fühlten uns nicht mehr wie auf einer verlorenen und vergessenen Insel, wir fassten wieder Mut, denn nun kümmerte man sich um uns...“
Ab März 1941 wurden viele Internierte in kleinere Nebenlager verlegt: Viele ältere Menschen kamen in die Lager Noé und Récébédou bei Toulouse, Familien mit Kindern nach Rivesaltes bei Perpignan. Auch die Familie Salmon kam nach Rivesaltes.
Viele konnten durch die Hilfsorganisationen sowie durch den Einsatz einzelner Franzosen gerettet und versteckt werden. Hunderte von jüdischen Kindern überlebten dank des Engagements des Schweizer Kinderhilfswerks und der Quäker, die in Marseille ein eigenes Büro unterhielten und dafür sorgten, dass ein großer Teil der internierten Kinder das Lager verlassen konnte. Sie wurden entweder in Kinderheime gebracht oder von Privatfamilien aufgenommen. Eine ganze Reihe von Kindern gelangte durch Vermittlung der OSE mit portugiesischen Schiffen über Lissabon in die USA. Sie kamen zu Verwandten oder wurden von Pflegeeltern aufgenommen. Die meisten dieser Kinder haben ihre Eltern nie wieder gesehen.
Nur einem kleinen Teil der erwachsenen Internierten war die Emigration möglich. Neben dem schwer zu erlangenden Einwanderungsvisum, das man nur bekommen konnte, wenn man aus den USA ein sogenanntes Affidavit-of-support bekam - eine von amerikanischen Bürgern auszustellende Bürgschaftserklärung - musste man eine von den Vichy-Behörden auszustellende Ausreiseerlaubnis, ein Transitvisum (für Spanien und Portugal) sowie Devisen für die Schiffspassage besitzen. Doch auch diejenigen, die all diese Voraussetzungen erfüllten, scheiterten oft an der fehlenden Passagemöglichkeit. Die wenigen Schiffe waren bis auf Monate hinaus ausgebucht. Verzweifelt warteten die in den Auswanderungslagern Les Milles und Marseille einsitzenden Juden auf einen Schiffsplatz.
Unter den Glücklichen, die auswandern konnten, war auch die Familie Salmon. Amerikanische Verwandte hatten die Bürgschaft für sie übernommen. Nach vier Monaten konnten die Salmons Rivesaltes verlassen und vorübergehend in der Nähe von Limoges unterkommen. Am 7. November erhielten sie in Marseille ihre Visa für die USA. In einem schäbigen Hotel in Marseille warteten Liesel Salmon und ihre Kinder Fred und Mathel auf weiteren Bescheid, während Carl Salmon im Männerlager Les Milles einsaß. Schließlich konnte die ganze Familie nach Casablanca reisen, von wo sie mit dem Schiff „Serpa Pinto“ den Atlantik überquerten. Gewissermaßen in letzter Minute, am 20. Februar 1942, kamen sie in New York an.
Vier Wochen vorher war auf der „Wannsee-Konferenz“ über das Schicksal der im Einflussbereich der Nationalsozialisten lebenden Juden beraten worden, nachdem sämtliche im Ausland lebende deutsche Juden zu „Staatenlosen" erklärt und ihr Vermögen zugunsten des Staates konfisziert worden war. Im „Zuge der Endlösung“ - ich zitiere aus dem Protokoll der Wannsee-Konferenz - sollten „die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen...Im Zuge der praktischen Durchführung der Endlösung wird Europa von Westen nach Osten durchgekämmt“.
Am 4. Februar 1942 wurde die Auswanderung von Juden ehemals deutscher Staatsangehörigkeit aus Frankreich verboten. Die mit der „Judenfrage“ befassten deutschen Dienststellen in Paris erließen ab März 1942 erste Anweisungen zur Deportation von Juden „in den Osten“. SS-Hauptsturmführer Theo Dannecker hatte am 4. März 1942 bei der Tagung der Judenreferenten in Berlin die Meinung vertreten, man solle der französischen Regierung „den Abschub mehrerer tausend Juden“ vorschlagen.
Am 27. März 1942 verließ der erste Transportzug mit 1.112 Personen von Compiègne aus Frankreich in Richtung Auschwitz. Die „praktische Durchführung der Endlösung“ hatte damit begonnen. Zwischen April und Juli 1942 arbeiteten das Reichssicherheitshauptamt in Berlin in Verbindung mit den Dienststellen der Gestapo in Paris die Pläne für die Fortführung der Abtransporte aus. Auch die Deutsche Botschaft in Paris hatte, ich zitiere Botschafter Abetz: „gegen die Abtransportierung von 40.000 Juden aus Frankreich zum Arbeitseinsatz in dem Lager Auschwitz grundsätzlich keine Bedenken“. Der Chef der französischen Polizei, René Bousquet, soll im Mai 1942 in Paris Heydrich darum gebeten haben „auch die über eineinhalb Jahre im unbesetzten Gebiet internierten Juden mit abzutransportieren.“
Im Juni 1942 wurden die Deportationen in den Osten fortgesetzt, wobei die französische Polizei „die von den Deutschen angeordnete und von Vichy gebilligte Hilfestellung leistete“. Die Maßnahmen zur sogenannten „Endlösung“ wurden im Sommer gleichzeitig in der besetzten und unbesetzten Zone Frankreichs eingeleitet. Razzien, regelrechte Menschenjagden wurden durchgeführt. Allein Mitte Juli 1942 wurden in Paris fast 13.000 staatenlose und ausländische Juden festgenommen, darunter auch etliche Saarländer. Sie kamen in die Lager Drancy, Pithiviers und Beaune-la-Rolande, von wo sie wenig später die Reise in die Vernichtungslager antreten mussten. Unter ihnen waren ca. 4.000 Kinder.
In der Zeit von März 1942 bis August 1944 sind insgesamt 73.853 Juden in 77 Transporten aus Frankreich in den Osten deportiert worden, vor allem im August und September 1942, überwiegend von dem Zwischenlager Drancy bei Paris aus. Allein 71 Transporte gingen nach Auschwitz, zwei nach Majdanek, zwei nach Sobibor und je einer nach Reval und Buchenwald.
Am 5./6. August 1942 wurde in Gurs und den anderen Internierungslagern in Südfrankreich mit der Deportation begonnen. Die französische Lagerleitung verschwieg auf Anordnung des Präfekten das vorläufige Ziel Drancy. Bald hatte es sich herumgesprochen, dass die Fahrt nach Polen ginge. Erschütternde Szenen spielten sich daraufhin in Gurs und den anderen Lagern ab. Einige versuchten sich das Leben zu nehmen, so dass das Lagerhospital bald überfüllt war.
Von den am 22. Oktober 1940 deportierten Saarländern mussten nach bisherigen Feststellungen mindestens 66, möglicherweise 75 Personen den Weg über das Zwischenlager Drancy nach Auschwitz antreten; mit ihnen viele weitere nach Frankreich geflüchtete und dort internierte Saarländerinnen und Saarländer. In Auschwitz sind sie weiteren Landsleuten aus dem Saarland begegnet, die von anderen Städten deportiert worden waren. Sie begegneten aber auch Landsleuten, die auf der anderen Seite standen, die Täter waren, wie z. B. dem aus Neunkirchen stammenden SS-Wachmann Karl Hautz oder der 1912 in Saarbrücken geborenen KZ-Wärterin im Frauenlager Auschwitz-Birkenau Dorothea Becker.
Das Leben von mindestens der Hälfte der 134 aus dem Saarland nach Gurs verschleppten Personen endete in den Gaskammern von Auschwitz.14 waren nachweislich in Gurs verstorben, 12 in Noé, Récébédou und Rivesaltes, einer starb in der psychiatrischen Klinik Lannemezan. Neun Personen konnten in die USA, nach Palästina und in die Dominikanische Republik gerettet werden. 17 Männer und Frauen überlebten in Frankreich. Nach Kriegsende kehrten sechs von ihnen wieder nach Deutschland zurück, in die gleichen Städte und Dörfer, aus denen man sie einst verschleppt hatte. Unter ihnen war auch Eugen Heymann, der Mitbegründer der neuen jüdischen Gemeinde Saarbrücken.
Eine der am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportierten Saarländerinnen, Kamilla Kahn, überlebte die Höllen von Majdanek und Auschwitz. Heute vor 75 Jahren wurde sie in Auschwitz von der russischen Armee befreit. Sie kehrte in ihr Heimatdorf Nalbach zurück. Doch sie hielt es hier nicht lange aus, emigrierte mit ihrem Mann 1946 nach Südamerika, kehrte aber nach einigen Jahren wieder ins Saarland zurück und starb 1987 im Alter von 91 Jahren in einem Pflegeheim in Dillingen.
Meine Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler, es ist wichtig, dass wir an die schweren Lebenswege dieser Menschen erinnern, der Opfer gedenken und die Namen und Schicksale der Gurs-Deportierten - wie auch die der anderen NS-Opfer - festhalten, damit sie nicht ganz vergessen werden.
Liesel Salmon schrieb im Juli 1987 aus New York an eine Freundin in St. Ingbert u.a.: „Deinen Wunsch unsere Deportation zu beschreiben, konnte ich nicht ausführen, da es meine Nerven nicht verkraften konnten. Es war zu schrecklich was wir durchmachten mit zwei Kindern in so großem Elend, vertrieben von Haus und Existenz und allem was uns lieb und teuer war, in die furchtbarsten Verhältnisse des Lagers Gurs in Südfrankreich zu landen. Kälte, Hunger, erbärmliche Holzbaracken, Schmutz, kein Wasser. Ich tröstete andere Leute, alte Menschen und sagte, die Welt wird erfahren, wo wir sind und wird Hilfe schaffen. ..Wir wußten, dass wir in ein Vernichtungslager verschoben werden. Wieviel kann eine Mutter mit zwei Kindern verkraften? Was nützt es, jetzt noch darüber zu schreiben. Es wäre nötig eine bessere Welt zu schaffen und einen zweiten Holocaust zu verbieten und jede Religion zu respektieren.
Heute will ich Dir, liebe Freundin, nicht zuviel vorheulen, ich verlasse mich auf den Anstand der gebildeten Jugend von heute, mitzuhelfen, eine bessere Welt zu schaffen. Wolle der gute Gott, es möge gelingen.“