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Parlamentarische Gedenkstunde des Landtags des Saarlandes aus Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2022 - REDE VON FRAU DR. H.C. KNOBLOCH

27.01.2022

Rede von Frau Dr. h.c. Knobloch

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Hans! Ihr erfolgreicher Ruf ist bis nach Bayern gedrungen. Ich darf Ihnen wünschen: Nur weiter so! - Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Rixecker! Sehr geehrte Abgeordnete! Verehrte Gäste! Ich begrüße ganz besonders junge Leute, die vielleicht hier sind oder die uns zuschauen. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst für die Einladung danken, die ich sehr gerne angenommen habe. Mein Dank gilt dem Präsidium des Landtages und vor allem Ihnen, sehr geehrter Herr Toscani, für die Gelegenheit, zu diesem besonderen Datum hier sprechen zu können.

Verehrte Anwesende, liebe Zuschauer, der 27. Januar ist ein besonderer Tag. Ich glaube, wir können dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog und dem damaligen Präsidenten des Zentralrates Ignatz Bubis im Nachhinein noch einmal herzlich danken. Heute vor 77 Jahren, Sie haben es angesprochen, Herr Präsident, erreichte die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz und befreite die wenigen überlebenden Häftlinge. Unter unseren neuen Gemeindemitgliedern war einer, der mit seinem Panzer damals die Gitter niederdrückte, um in das Lager hineinzufahren. Als er uns davon erzählt hat, sind ihm die Augen nass geworden, und wir werden nie vergessen, was er, als er dort eintraf, gesehen hat.

Die Mordfabrik Auschwitz, deren Name als Synonym für den Zivilisationsbruch des Holocaust steht, fand an diesem Tag ihr Ende. Die Überlebenden aber kämpften ein Leben lang mit den körperlichen und seelischen Folgen des Erlittenen. Aus dieser Fortdauer des Geschehens erwuchs eine Verpflichtung der Erinnerung für uns. Der 27. Januar ist deshalb zugleich auch der Tag, an dem in Deutschland seit 1996 alljährlich an diesen Zivilisationsbruch erinnert wird. Man muss sagen: Das geschah erst 1996, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem historischen Ereignis. Sowohl diese späte Festlegung als auch das Datum selbst, das zum Beispiel dem 9. November vorgezogen wurde, und die entsprechenden Debatten dazu lassen erahnen, wie sehr Fragen der Erinnerung weiter das Verständnis davon prägen, was eigentlich deutsch ist.

Welche Emotionen diese Frage auslösen kann, habe ich im vergangenen Jahr selbst erlebt. Im Januar 2021 wurde mir die besondere Ehre zuteil, anlässlich der Gedenkfeier zum Holocaust-Gedenktag im Deutschen Bundestag zu sprechen. Meinen Ausführungen habe ich damals den Hinweis vorangestellt, dass ich als „stolze Deutsche“ vor das Hohe Haus trat. Nur selten habe ich erlebt, dass so wenige Worte ein so gewaltiges Echo ausgelöst haben. In unserer Kultusgemeinde gingen nach der Rede über Wochen Briefe, E-Mails und sogar Telefonanrufe von Menschen ein, die mich für meine Formulierung beschimpften oder, zum Glück viel häufiger, beglückwünschten. So oder so: Eine Holocaust-Überlebende, die solche Worte in den Mund nahm, war ganz offensichtlich für viele Menschen ein Ereignis. Dabei habe ich nur ausgesprochen, wo und wie ich mich selbst sehe. Es ist m e i n e Lebenserfahrung, die mich vom Erdulden von Ausgrenzung und von Heimatverlust und von einer tiefen Abneigung gegen dieses Land und seine Menschen dazu gebracht hat, dass ich mich wieder zu Hause fühle, und das, wie gesagt, mit Stolz. Gerade weil ich erlebt habe, was ich erlebt habe, würde ich heute kein Wort davon ändern.

So vielen jüdischen Deutschen wurde vor ihrer Ermordung durch die Nationalsozialisten nicht nur das Hab und Gut, sondern auch die Heimat geraubt. Über Jahrzehnte hat die jüdische Gemeinschaft diese Heimat wieder für sich gewonnen. Welch größeren Sieg über Hitler könnte es geben, meine Damen und Herren? In Deutschland zu leben, hier beheimatet zu sein, deutsch zu sein, das bedeutet immer auch, sich zu erinnern. Unser Land, wie wir es heute kennen, ist auf Erinnerung gebaut. Gerade für jüdische Menschen war und ist das die Voraussetzung für ein Wiederankommen in Deutschland.

Das galt in der Geschichte besonders für die jüdischen Saarländer, deren Weg zurück in die jüdisch-deutsche Gemeinschaft und die deutsche Gesellschaft auch für sie selbst unerwartet kam. In der Synagogengemeinde galt es schließlich in den Nachkriegsjahren als ausgemacht, dass das Saargebiet nun endgültig an Frankreich fallen würde. Viele jüdische Rückkehrer waren nur aufgrund dieser Erwartung überhaupt wieder ins Saarland gekommen, und vor allem deshalb begannen sie den Wiederaufbau jüdischer Strukturen hier mit einer Energie und Geschwindigkeit, die man in Restdeutschland vergeblich gesucht hat. Dort waren fast überall nur sogenannte Liquidationsgemeinden aktiv, die ihre Aufgabe darin sahen, das jüdische Gemeindeleben bis zum Ende der Auswanderung und der weiteren Themen abzuwickeln. An eine jüdische Zukunft hierzulande glaubte damals niemand.

Es war Konsens, dass man im „Land der Mörder“ - so hieß Deutschland für uns seinerzeit - nicht bleiben könnte. Auch ich teilte diese Ansicht. Das war hier im Saarland anders. Die erwartete Trennung von Deutschland machte es den saarländischen Juden leichter, in ihrer Heimat wieder dauerhaft anzukommen. Nicht zufällig wurde der erste deutsche Nachkriegsneubau einer Synagoge, Herr Präsident Toscani hat es erwähnt, 1948 in Saarbrücken begonnen. Die Auftraggeber rechneten gar nicht unbedingt damit, das Gebäude nach seiner Fertigstellung zu nutzen. Am Ende führte jedoch auch ihr Weg in eine neue jüdische deutsche Epoche. Und das nicht nur hier. Jüdische Menschen im ganzen Land, die fest an eine Zukunft außerhalb Deutschlands geglaubt hatten, fanden sich doch in der neuen Heimat wieder, die für manche von ihnen auch die alte gewesen war.

Verehrte Anwesende, zur deutschen Aufgabe der Erinnerung gehört deshalb auch, sich die Leistungen und Beiträge der jüdischen Gemeinschaft nach 1945 bewusst zu machen - Leistungen, die in der Mehrheitsgesellschaft bis heute nur wenig bekannt sind. Dabei spreche ich nicht nur von den physischen Errungenschaften, von Gemeindezentren, Museen, Friedhöfen und kulturellen Begegnungsstätten. Ich spreche nicht vom nötigen Stein und Beton, sondern von einem jüdisch-deutschen Leben, das diesen Namen wirklich verdient. Ich spreche von Familien, die hier gegründet wurden, von Kindern, die in und mit diesem Land aufgewachsen sind und es heute in der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik, in Kunst, Literatur und Gesellschaft bereichern. Darauf aufbauend haben sogar jüdische Menschen aus anderen Teilen der Welt Deutschland für sich als neue Heimat ausgewählt. Das ist für unsere ganze Gesellschaft Ehre und Auftrag gleichermaßen.

Wir alle sind Zeugen geworden, wie jüdisches Leben vor unseren Augen wieder Gestalt angenommen hat, mit Kindergärten und Schulen, mit Kultur und Lehrangeboten. Wir haben erlebt, wie Gemeinden wieder anwuchsen, und wir haben erlebt, wie Synagogen neu errichtet wurden, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil sie Symbol für die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland sind. In diesem Rahmen möchte ich erwähnen, dass das Herzstück unserer Münchner Kultusgemeinde das Ergebnis einer besonderen bayerisch-saarländischen Kooperation ist. Das Ensemble aus Synagoge und Gemeindezentrum am Jakobsplatz in der Münchner Altstadt, in denen unsere Mitglieder seit inzwischen 15 Jahren ein- und ausgehen, wurde von einer ausgezeichneten Architektin aus Saarbrücken geplant und erbaut, Dr. Rena Wandel-Hoefer, die heute hoffentlich hier anwesend ist.

Verehrte Anwesende, Synagogen, wie es sie hier in Saarbrücken, bei uns in München und zu Dutzenden in ganz Deutschland gibt, sind sichtbare Zeichen der Zuversicht ihrer Gemeinden. Sie drücken eine Gewissheit aus, wo zuvor alles im Vagen lag, und sie fungieren als steingewordene Ausrufezeichen, die eine Ära voller Fragezeichen beenden sollen. Über viele Jahre schien das zu gelingen. Als wir Ende 2003 in München den Grundstein für das neue Jüdische Zentrum legten, da konnte ich noch mit voller Überzeugung sagen, dass die berühmten gepackten Koffer, auf denen auch ich mit meiner Familie jahrzehntelang gesessen hatte, endlich ausgepackt waren. Dem großen Ziel, das jüdische Menschen in Deutschland seit Jahrhunderten und Jahrtausenden ersehnten, der Normalität, fühlten wir uns damals näher als je zuvor.

Leider muss man heute festhalten: Unser Optimismus war verfrüht. Das hat schon die Grundsteinlegung selbst verdeutlicht, die nur stattfinden konnte, weil die Münchner Polizei kurz zuvor den Sprengstoffanschlag rechtsextremer Terroristen vereitelt hatte. Auch in den Jahren seither ist jüdisches Leben zwar weiter gewachsen, aber unverändert nur in einer Nische, aus der neue alte Bedrohungen bis heute jeden Ausweg versperren. Der Judenhass ist schneller gewachsen als das jüdische Leben. Zwar sind jüdische Themen heute in der Gesellschaft viel sichtbarer und das Interesse vieler Menschen daran ist groß. Jüdische Kulturtage sind heute überall gut besucht, die Jiddisch- und Hebräischkurse der Volkshochschulen sind voll, und selbst in der Pandemie feiern wir 1.700 Jahre jüdischer Präsenz in unserem Land. Jüdisches Leben findet in neuen schönen Gebäuden statt, oft in bester Lage, aber eben nur unter Schutz durch Polizei und eigene Sicherheitsdienste. Keine Gemeinde in Deutschland ist so fahrlässig, einen jüdischen Gottesdienst ohne Wachschutz abzuhalten. Dass das lebensgefährlich sein kann, wissen wir nicht erst seit dem Anschlag von Halle.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Realität ist die: Die scheinbar endgültigen Antworten der letzten Jahrzehnte waren keine. All die quälenden Fragen, die es längst nicht mehr geben sollte, sind heute trotz aller guten Absichten wieder aktuell. Wir in der jüdischen Gemeinschaft stellen sie uns weiterhin. Wir fragen uns, warum fast 80 Jahre nach Kriegsende Rechtsextreme wieder in deutschen Parlamenten sitzen und die freiheitliche Demokratie aus ihren Herzkammern heraus angreifen. Wir fragen uns, wie es möglich ist, dass eine kleine gewaltbereite Minderheit auf den Straßen wütet und sich wie zum Hohn selbst gelbe Sterne anheftet. Wir fragen uns, wie das demokratische Gewebe der Gesellschaft, das über Jahrzehnte fest geknüpft war, derart schnell ausfransen und reißen konnte und wie so wenige auf Kosten so vieler solchen Schaden anrichten können.

Wir fragen uns, warum Deutschland - ausgerechnet Deutschland! - es zulässt, dass Juden hierzulande in Angst leben müssen vor Islamisten, deren Verblendung zu tätlichen Angriffen führt, vor Neonazis, Reichsbürgern und Querdenkern, die den Wahnsinn aus den Fiebersümpfen des Internets aufsaugen und mit Wut und Gewalt in die Wirklichkeit tragen, angestachelt auch von politischen Gruppierungen wie der AfD, die sie in ihrem Extremismus noch bestärken. Und in Angst vor Teilen der vielbeschworenen Mitte, die dem Problem im besten Fall nicht genug entgegentritt und die manchmal noch diejenigen in Wort und Tat schützt, die Freiheitsrechte missbrauchen.

Wir fragen uns auch, warum Hass auf Israel in diesem unserem Land weiterhin so verbreitet ist, warum teils offener Judenhass toleriert wird, solange er sich nur das Mäntelchen der sogenannten Israel-Kritik umlegt. Warum man Demonstrationen gewähren lässt, vor denen Dutzende Polizisten dann die Synagogen schützen müssen, und warum die Kulturelite des Landes sich in großer Eintracht zusammenfindet, um eine vom Bundestag zu Recht verurteilte Boykottkampagne in Schutz zu nehmen, nicht aber um denen zu Hilfe zu kommen, die unter ihr leiden. Und warum Meinungs- und Versammlungsfreiheit derart leicht zu missbrauchen sind.

Wir fragen uns, warum all diese Bedrohungen für uns jüdische Menschen einfach hingenommen werden und weshalb es als normaler Teil des Alltags akzeptiert wird, dass jüdische Schulkinder nur hinter Panzerglas lernen können. Wir in München hören von nichtjüdischen Besuchern unseres Zentrums immer wieder die Frage, ob man nicht die Sicherheitsvorkehrungen lockern könnte; Kirchen seien doch auch immer offen. Nichts täten wir lieber als das! Der Gedanke ist gut gemeint, aber er übersieht, was jüdische Menschen nicht übersehen können: Türen zu öffnen bedeutet für eine jüdische Gemeinde heute, sich Gefahren auszusetzen. Kirchen stehen offen, aber sie sind auch nicht das Ziel von Brandanschlägen. An ihnen müssen Demonstrationszüge nicht mit großem Polizeiaufgebot weit vorbeigeführt werden, wenn es im Nahen Osten zu Auseinandersetzungen kommt. Und vor ihnen marschieren auch keine Rechtsextremen auf, die Gemeindemitglieder einschüchtern. Nichts würde uns glücklicher machen, meine sehr verehrten Damen und Herren, als unsere Häuser genauso öffnen zu können. Allein die Möglichkeit, dass wir das können, gibt es noch nicht. Und allein können wir sie auch nicht schaffen.

Ich habe 2018 in einem Interview davon gesprochen, dass wir uns mit Blick auf den aktuellen Judenhass noch nicht wieder im Jahr 1932 befänden, sehr wohl aber im Jahr 1928. Vier Jahre sind seitdem vergangen, und 1932 ist Gott sei Dank noch nicht eingetreten. Wir sind nicht an dem Punkt, an dem mein Vater zu meiner Geburt stand. Sogar er, der unerschütterliche Optimist, erzählte mir später einmal, dass er sich über die Geburt seiner Tochter zwar sehr gefreut habe, dass der Zeitpunkt im Herbst 1932 aber der denkbar ungünstigste gewesen sei, um die Familie zu vergrößern. Den Optimismus habe ich von ihm geerbt, und ich habe ihn mir bis heute bewahrt. Ich will ihn mir trotz aller aktuellen Probleme auch nicht nehmen lassen.

Es gibt schließlich auch gute Nachrichten. Junge jüdische Paare haben trotz alldem keine Bedenken, Kinder zu bekommen und ihre Freude über die Geburt in unserer Gemeinde bekanntzumachen. Viele jüdische Menschen wissen selbstverständlich um die Vorteile eines Lebens in Deutschland, das ungeachtet aller Propaganda von rechts ein freies, sicheres und lebenswertes Land ist. Ich sehe auch, dass die Politik überall in Deutschland um die Probleme weiß und alles in ihrer Macht Stehende tut, um jüdischen Bürgern das Gefühl von Sicherheit zurückzugeben. Das ist nicht wenig. Aber der Weg dorthin ist lang, Angst und Unsicherheit sind heute tief in die Selbstwahrnehmung der jüdischen Gemeinschaft eingegraben.

Dieselben jungen Leute, die die Beschneidung ihrer Söhne in unserer Synagoge feiern, berichten mir später im persönlichen Gespräch, dass sie nicht wüssten, ob ihr Kind auch eine Zukunft in Deutschland habe. Sie sagen: Wir können mit den Problemen heute leben, aber wie sieht es in fünf, in zehn oder in 20 Jahren aus? Was für ein Leben werden unsere Kinder hier haben? Ich habe auf solche Fragen keine gute Antwort. Die nächste jüdische Generation, auf die es ankommt für die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland, steht heute bereits unter Vorbehalt, noch ehe sie dem Kindergartenalter entwachsen ist. Vor ihnen liegt eine Zukunft voller Fragezeichen, eine Zukunft, die sich für ihre Eltern schon jetzt wie eine Erinnerung anfühlt.

Das anzuerkennen ist für mich persönlich besonders schmerzhaft. Ich selbst habe mich über Jahrzehnte hinweg dafür eingesetzt, dass jüdische Menschen hier wieder leben können und wollen. Ich habe gehofft und gebetet, dass ihnen die quälende Ungewissheit meiner Jugend erspart bleibt. Die Angst und die Hilflosigkeit, die ich damals erleben musste, sind bis heute das Koordinatennetz meiner Erinnerung. Und ich sagte bereits: Deutsch sein bedeutet, stets zu erinnern, auch in meinem Fall. Die Demütigungen und Beleidigungen, die ich als Kind erlebt habe, kann ich nicht vergessen. Die Deportation meiner geliebten Großmutter, die die Mutterstelle vertreten hat, die Mittelpunkt meines Lebens war, die in Theresienstadt ermordet wurde. Die brennende Synagoge im November 1938 und die Jahre, die ich in Angst und Hilflosigkeit unter falscher Identität an einem für mich fremden Ort verbringen musste, nur um zu überleben. All das bleibt. Solche Erlebnisse sind prägend, und nicht nur für mich.

Die italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg, deren Mann während des Krieges von Mussolinis Faschisten ermordet wurde, schrieb 1948 über die Nachkriegszeit - ich zitiere ‑:

Die Menschen, sie empfinden in ihren Häusern nun nicht mehr jene Sicherheit und Wärme, die sie früher empfunden haben. Wir haben wieder Lampen auf unseren Tischen und Blumenvasen und die Bilder von denen, die wir lieben. Aber wir glauben nicht mehr an diese Dinge, weil wir sie einst aufgeben mussten, ohne gewarnt zu werden, oder weil wir sinnlos in den Trümmern nach ihnen suchen mussten. Wenn du dies einmal durchgemacht hast, wird die Erfahrung des Bösen niemals in Vergessenheit geraten.

Verehrte Anwesende, es ist das große Glück unseres Landes, dass heute ganze Generationen, jüdische wie nichtjüdische, diese Erfahrung des Bösen nicht haben machen müssen. Sie haben nicht, wie ich, erlebt, wie die sprichwörtlichen Bilder und Blumenvasen, vor allem aber die vielen geliebten Menschen, einfach weggerissen wurden. Dafür, dass es diese Erfahrungen hierzulande kaum noch gibt und wir in einem geeinten, friedlichen Europa leben, können wir alle Gott danken.

Aber die Sorge bleibt, dass das Böse, das nicht vergessen werden darf, schlussendlich doch in Vergessenheit gerät, dass diejenigen die Oberhand gewinnen, die Deutschsein nicht als Inbegriff, sondern als das Gegenteil von Erinnerung verstehen und die unser Land damit bedrohen. Ihnen keinen Fußbreit zu überlassen, ist in diesen Tagen und darüber hinaus oberste Pflicht. Denen, die vom Volk sprechen und damit nur ausgrenzen wollen, muss die Mehrheit sich in den Weg stellen. Stolze Deutsche zu sein, kann nicht bedeuten, selbstsüchtigen Fieberträumen angeblicher Größe anzuhängen und all die zu bedrohen, die eine andere Meinung haben, sondern es muss heißen, offen und respektvoll ein Land zu gestalten, das eine Heimat ist für alle Menschen, die hier unserer Werte wegen leben. Es muss ein Hort von Freiheit sein, einer Freiheit, die auf Verantwortung und Miteinander basiert. Gerade auch junge Menschen sollen ihre Heimat lieben und zu schätzen wissen, weil sie die Heimat von uns allen ist, egal woher wir stammen, wo wir beten oder zu wem wir abends nach Hause kommen. Darauf können wir stolz sein und das dürfen wir uns nicht nehmen lassen! Der Einsatz für Freiheit und Demokratie ist die Aufgabe unserer Zeit. Wir müssen erhalten, was uns erhält. Mit Selbstbewusstsein können und müssen wir füreinander da sein.

Sehr geehrter Herr Präsident Toscani, Sie haben von der Stärke und dem Heldenmut gesprochen. Wir dürfen nicht tatenlos sein, wenn Ausgrenzung und Intoleranz um sich greifen. Ein mitfühlendes Herz bleibt unsere schärfste Waffe. Der 27. Januar ist einer von vielen Tagen der Erinnerung in unserem Land und ein Tag des Gedenkens an die Millionen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Halten wir ihr Andenken in Ehren, denn die Erinnerung gibt uns den Weg in unsere gemeinsame Zukunft vor. Ein Deutschland ohne Erinnerung wird finster. Ich sage das ganz besonders auch den jungen Menschen in unserem Land. Euch rufe ich zu: Lasst euch in eurer Zukunft von niemandem sagen, wen ihr zu lieben und wen ihr zu hassen habt! Folgt immer dem Kompass eurer Herzen. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen. - Sehr lang anhaltender Beifall.)

Rede von Frau Dr. h.c. Knobloch als PDF-Datei zum Herunterladen
Rede Parlamentarische Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus 2022 (91 KB)

Stage 2