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Grußwort des Landtagspräsidenten Stephan Toscani zur Eröffnung des 4. Bauabschnitts der Erinnerungsstätte für das ehemalige Gestapolager Neue Bremm

19.11.2018

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

Herr Kultusminister,

meine Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Saarländischen Landtages,

Frau Vizepräsidentin,

Herr Regionalverbandsdirektor,

Frau Oberbürgermeisterin,

sehr geehrter Herr Dr. Bohr,

meine sehr verehrten Damen und Herren!

Es bewegt mich sehr, dass ich heute an diesem Ort zu Ihnen sprechen darf. Es bedeutet mir umso mehr, da ehemalige Gefangene dieses Gestapolagers und Holocaust-Überlebende unter uns sind.

Sich erinnern heißt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenzuführen. Das Erinnern hat zwei Richtungen.

1. Wir erinnern uns um der Vergangenheit Willen.

2. Es ist aber auch wichtig, dass wir uns um unserer Gegenwart und unserer Zukunft Willen erinnern.

Die eine Richtung unseres Erinnerns zielt in die Vergangenheit: Es geht darum, mit der Vergangenheit wahrhaftig umzugehen; darum, den Opfern ihre Würde zurückgeben; die Würde, die ihnen, wie wir eben im Theaterstück erfahren haben, auf furchtbare Art genommen wurde. Es geht darum, an die Namen der Opfer zu erinnern, sie vor dem Vergessen zu bewahren.

Das spielt besonders an diesem Ort eine wichtige Rolle. Denn der Umgang mit dem Lager nach dem 2. Weltkrieg war nicht rühmlich. Nachdem die Franzosen unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg eine Gedenkstätte errichtet hatten, geriet das Lager später in Vergessenheit. Es zerfiel. Es ist der privaten Initiative Neue Bremm zu verdanken, dass hier ein Erinnerungsort errichtet wurde. Ich betone: Es war eine private Initiative, keine öffentliche. Es waren engagierte Bürgerinnen und Bürger, die rund 50 Jahre nach dem Ende des Weltkrieges die Initiative ergriffen haben.

Umso wichtiger war es, dass bei der Eröffnung der Gedenkstätte im Jahr 2004 der damalige Ministerpräsident zugegen war. Auch deswegen finde ich es bemerkenswert, dass unser heutiger Ministerpräsident hier ist - und mit ihm viele Vertreter des öffentlichen Lebens. Dies zeigt, dass wir unsere Verantwortung für die Erinnerung an die Verbrechen im Dritten Reich ernst nehmen.

Verfolgung, Unterdrückung und Mord haben nicht nur an weit entfernten Orten stattgefunden, wie z.B. in Auschwitz. Nein, die Unterdrückung war sichtbar. Sie hat mitten in der Bevölkerung stattgefunden. Dieser Ort zeigt das besonders. Was hier geschah, war von jedem, der vorbeikam, einsehbar. Für viele Saarbrücker lag das Lager am Weg zum Hauptfriedhof oder zum Ausflugsziel „Spicherer Höhen“. Das Lager befand sich an der Kreuzung zweier Straßen und ein Weg trennte das Männer- vom Frauenlager. Die Bewohner in der Nachbarschaft konnten die Schreie der Gefolterten hören.

Wir haben im Theaterstück erfahren, wie die Lageraufseher, die nicht einmal überzeugte NSDAP-Mitglieder waren, in die Verrohung abgeglitten sind.

Viele mussten also gewusst haben, was dort passiert. Die Verrohung der Aufseher war unvorstellbar; die Gleichgültigkeit von Teilen der Bevölkerung hatte ein hohes Ausmaß erreicht.

Wie ist das zu erklären - die Verrohung und Brutalität der Aufseher, die Gleichgültigkeit der Bevölkerung?

Eine Antwort, die uns Sozialwissenschaftler geben, lautet: Dadurch, dass das Naziregime den Menschen eingeredet, sie durch Propaganda beeinflusst hat zu glauben, dass die Häftlinge keine Mitglieder der Volksgemeinschaft seien, dass sie Gemeinschaftsfremde seien, die nicht zur sozialen Gemeinschaft gehörten und deshalb so behandelt werden konnten. Und da sehen wir das Muster, die Ausgrenzung. Andere ausgrenzen, weil sie z.B. eine andere politische Einstellung oder eine andere Hautfarbe haben, eine andere Religion, eine andere sexuelle Orientierung, eine Krankheit oder eine Behinderung - auf irgendeine Art Menschen erst ausgrenzen und ihnen danach ihre Würde nehmen; das ist das Muster.

Die letzte noch lebende Vertraute der Mitglieder der weißen Rose ist Traute Lafrenz. Sie lebt heute 99-jährig in den USA. Vor kurzem hat sie dem Spiegel ein Interview gegeben.

Darin hat sie gesagt: „Was entmenschlicht uns, und was macht uns dann wieder zum Menschen? Und wenn für beides nur ein Wimpernschlag genügt, müssen wir dann nicht immer wachsam sein? Kehrt nicht auch das Böse, wenn man es lässt, eines Tages zurück?“ In ihren Worten liegt der Schlüssel: Darauf achten, dass unser Gegenüber als Mensch behandelt wird mit seiner unveräußerlichen Würde; nicht zulassen, dass anderen ihre Würde, warum auch immer, genommen wird. Uns bewusst sein, dass die Grenze zwischen Gut und Böse sehr dünn sein kann. Der Grat zwischen Gut und Böse scheint schmaler zu sein, als wir es mitunter vermuten. Der Firnis der Zivilisation ist dünn. Unsere Zivilisation, auf die wir stolz sind, ist nicht für alle Zeiten gesichert.

Darum ist die zweite Zielrichtung von Erinnerung ebenso wichtig: Sich erinnern um unserer Gegenwart und um unserer Zukunft Willen. Erinnerungsarbeit ist aktueller denn je.

Unser ehemaliger Bundespräsident Richard von Weizäcker, hat einmal gesagt: „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Wenn wir uns die aktuellen Entwicklungen betrachten, wenn wir uns mit populistischen Tendenzen auseinandersetzen, dann muss uns bewusst sein, wie wichtig es ist, dass es eine „zivilgesellschaftliche Achtsamkeit und Wachsamkeit“ gibt. Dass es wichtig ist, dass Bürgerinnen und Bürger sich gegen die Verletzung von Menschenwürde stellen. Dass sie den Mund aufmachen, dass sie engagiert sind im Einsatz für unsere zivilisierte Gesellschaft.

Neben einer starken Zivilgesellschaft kommt es auch auf den Staat an: Ein Rechtsstaat, der Recht und Gesetz durchsetzt und der wehrhaft ist. Ein Staat, der über starke rechtsstaatliche Institutionen verfügt.

Ich bin Jahrgang 1967. Gerade für die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland Geborenen sind Demokratie und Rechtsstaat selbstverständlich. Wir kennen nichts anderes. Aber die Geschichte zeigt, dass es immer wieder Bedrohungen gibt:

Der Philosoph Karl Popper hat das in seinem berühmten Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ ausgeführt. Offene Gesellschaften haben Feinde, zu allen Zeiten. Die Geschichte hat kein Ziel, sie kommt nicht an ein Ende in dem Sinn, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für immer gewonnen sind. Im Gegenteil, sie sind sehr kostbar.

Deshalb braucht es einen im guten Sinne starken Staat, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit seinen Institutionen auch in schwierigen Zeiten zu verteidigen vermag.

Das ist neben zivilgesellschaftlicher Achtsamkeit und Wachsamkeit in meinen Augen genauso wichtig.

Die beiden Zielrichtungen von Erinnerungskultur treffen an diesem Ort zusammen: Den Opfern ihre Würde zurückgeben und einen Ort schaffen, an dem gerade junge Leute aus der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft lernen. Deshalb ist es so verdienstvoll, dass sich die Initiative Neue Bremm, Sie, lieber Herr Dr. Bohr und Sie, lieber Herr Dr. Jellonnek, mit Ihren Mitstreitern für diesen Ort als Erinnerungsort engagiert einsetzen. Ich möchte auch all den anderen danken, die diesen 4. Bauabschnitt ermöglicht haben: der Bundesregierung, dem Land, insbesondere dem Sozialministerium und der Totogesellschaft, sowie der Landeshauptstadt Saarbrücken.

Mit Blick auf Gegenwart und Zukunft bleibt Erinnerungsarbeit eine ständige Aufgabe, zumal immer weniger Zeitzeugen leben. Ich freue mich sehr, dass die Witwe von Alex Deutsch heute hier ist.

Zum anderen bleibt Erinnerungskultur aktuell, weil sich unsere Gesellschaft durch Zuwanderung verändert. Kinder aus manchen Migrantenfamilien blicken mit anderen Augen auf die deutsche Vergangenheit. Sie sind geprägt von Antisemitismus in ihren Herkunftsländern und der Ablehnung des Staates Israel. Aus diesen Gründen mache ich die Erinnerungsarbeit zu meiner Aufgabe als Landtagspräsident. Ich werde in den nächsten Monaten gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern Erinnerungsorte im Saarland besuchen. Ich möchte mit ihnen entdecken, was in unserer Region zur Zeit der NS-Diktatur passiert ist. Den jungen Leuten bewusst machen, dass Unterdrückung, Unrecht und Mord eben nicht nur weit entfernt stattgefunden haben, sondern auch hier in unserer Heimat. Wer hat Widerstand geleistet? Wie haben sich die Ereignisse auf die Beziehungen untereinander ausgewirkt? Hat es jemanden interessiert, wenn plötzlich Mitschüler über Nacht verschwanden?

Außerdem danke ich Kultusminister Ulrich Commerçon, dass er kürzlich die Landesarbeitsgemeinschaft „Erinnerungsarbeit im Saarland“ gegründet hat. Sie vernetzt und stärkt das Engagement vieler Beteiligter.

Sonntag, 21. Oktober 2018

Stage 2