„Ohne Sprache und ohne Worte; unhörbar ist ihre Stimme. Ihr Schall geht aus in alle Lande und ihr Reden bis an die Enden der Welt“.
Die Vertonung dieses Auszugs aus Psalm 19 (Vers 3-4) stellte der britische Komponist James Whitbourn an das Ende seines beeindruckenden Werkes „Annelies“. Das 2005 erstmals aufgeführte Oratorium auf der Basis des Tagebuchs von Anne Frank zeichnet musikalisch den Weg des Mädchens vom Versteck in Amsterdam bis zur Vernichtung im System der Konzentrationslager nach und weist am Ende mit den Worten des Psalms auf die Bedeutung der Sprache für die Erinnerung hin. Vor zwei Jahren wäre Anne Frank, die selbstverständlich auch stellvertretend für die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik steht, 90 Jahre alt geworden. So erlebte das Oratorium zahlreiche Aufführungen. Sprache und Musik führen aus dem Schweigen, machen das Unerhörte hörbar und erinnerbar – überall. Dazu möchte ich heute beitragen.
Schweigen, häufig über Jahrzehnte, behinderte oder verhinderte lange die Erinnerung an NS Opfergruppen, vielleicht besonders intensiv bei derjenigen, um die es in der heutigen Gedenkstunde gehen soll, die Opfer der Patient*innenmorde. Psychiater*innen hatten, von Einzelfällen abgesehen, lange kein Interesse daran zu thematisieren, dass ihre Profession sich gegen die eigenen Patient*innen gewandt hatte – bis zur Ermordung eines immer wieder erschreckend hohen Anteils von ihnen. Angehörige schwiegen häufig – nicht nur nach außen, was zum Teil mit der fortdauernden Stigmatisierung psychischer Krankheiten in der Nachkriegszeit zu erklären wäre. Auch in den Familien herrschte oft Sprachlosigkeit, vielfach als Tabu beschrieben, bedingt wohl durch Gefühle von Scham und Schuld oder vergangener Macht- und Hilflosigkeit. Anderen Beteiligten, Pflegenden, Verwaltungsleuten in psychiatrischen Einrichtungen und öffentlichen Behörden, Schreibtischtätern, Mitwisser*innen oder Zuschauer*innen und ihren Nachkommen mag es in der einen oder anderen Weise ähnlich gegangen sein.
Wie viele Generationen hat es gedauert, bis sich dies änderte? Seit den 1980er Jahren ist jedenfalls verstärkt historische Forschung festzustellen, es entstanden nach und nach Gedenkstätten in den ehemaligen Tötungsanstalten der Gasmorde, immer mehr Angehörige suchten dort nach Aufklärung des Schicksals ihrer Verwandten. Lokale und weiter gespannte Initiativen gingen den Wegen früherer Bewohner*innen ihrer Region nach, verfassten Gedenkbücher oder errichteten Mahnmale. Es ist auch für diese Opfergruppe eine Gedenklandschaft entstanden: So finden sich dezentrale Erinnerungszeichen wie Stolpersteine oder Gedenksteine bei psychiatrischen Einrichtungen, regionale Gedenkstätten und der zentrale Gedenk- und Informationsort in Berlin an der Tiergartenstraße 4, die den Morden den Namen „T4“ gegeben hat. Wie kann man das Erreichte festigen, die „Zukunft der Erinnerung“ gestalten, gleichzeitig einem „Unbehagen an der Erinnerungskultur“, den Gefahren von Routine, Ritualisierung und Erstarrung begegnen? Das sind inzwischen häufig gestellte Fragen. Eine Antwort könnte in der Lokal- und Regionalgeschichte liegen, und letztlich in der Individualisierung. Denn bezogen auf das einzelne Leben ist der Tod niemals Routine, und im Fall von Mord erst recht nicht. Doch der große Rahmen, die historische Einordnung darf dabei nicht verloren gehen. Daher möchte ich meine heutigen kurzen Ausführungen in drei Teile gliedern. Zunächst soll es um die nationalsozialistischen Patient*innenmorde insgesamt in ihrem historischen Kontext gehen, dann um das Saarland. Schließlich möchte ich in aller Kürze die Lebensgeschichte eines Patienten stellvertretend für diese Opfergruppe erzählen.
1. Die nationalsozialistischen Patient*innenmorde sind zunächst im Kontext mit den weiteren Medizinverbrechen, der Zwangssterilisation und den verbrecherischen Humanexperimenten vor allem, aber nicht ausschließlich in den Konzentrationslagern zu sehen. Auch an Opfern der so genannten „Euthanasie“ wurde zum Teil geforscht, besonders
häufig an Kindern. Hier sind vor allem Versuche mit Impfstoffen und Hirnforschung zu nennen, wobei es hierzu gerade im Moment weitere Forschung gibt, denn alles ist immer noch nicht aufgeklärt. Was die Zwangssterilisation betrifft, so wird dieses seit 1933 in Politik umgesetzte rassenhygienische Programm mit seinen fatalen Auswirkungen für bis zu 400.000 Menschen häufig in sehr engen Zusammenhang zu den Patient*innenmorden gebracht, ja als Vorgeschichte zu diesen erzählt. Im Sinne einer Radikalisierung sei man von der Vernichtung der als negativ beurteilten Erbanlagen zur Vernichtung der betroffenen Menschen selbst zwecks Ausschließung aus der „Fortpflanzungsgemeinschaft“ übergegangen, geradezu im Sinne einer zwangsläufigen Entwicklung. Es ist richtig, dass beide Verbrechen verbunden werden durch eine Sichtweise der jeweiligen Täter, die den „Lebenswert“ von bestimmten Gruppen von Menschen als negativ bewertete, und diese aus der Gesellschaft ausschließen wollte. Als „lebensunwert“ galten in einem Fall die möglichen Nachkommen in solcher Weise stigmatisierter Menschen, im anderen Fall diese selbst. Rassenhygienische Propaganda wertete ihre Existenz systematisch über Jahre ab, beginnend nicht erst in der Zeit des Nationalsozialismus. In diesem Zusammenhang spielten auch immer ökonomische Argumentationen eine Rolle. Es ging um so genannte „Ballastexistenzen“, zukünftige oder gegenwärtige. Doch schaut man genauer hin, so gab es keine bruchlose Kontinuität zwischen beiden Verbrechen. Nicht nur war das eine scheinbar gesetzmäßig legitimierte Umsetzung offizieller Politik, das andere eine „geheime Reichssache“, die auch damals gegen geltendes Recht verstieß. Es ging auch von der Zielsetzung her um unterschiedliche Gruppen der Zivilgesellschaft. Zum einen zielte man mit der Zwangssterilisation auf leichter beeinträchtigte Menschen, die mitten in der Gesellschaft lebten und somit als „fortpflanzungsgefährlich“ galten. Die andere Gruppe waren zumeist langjährige Anstaltspatient*innen, bei denen die nach Geschlecht getrennte Asylierung Fortpflanzung ohnehin weitgehend verhinderte, die teils alt waren und längst Kinder hatten, teils Krankheiten zugeschrieben bekamen, die damals als nicht erblich galten, oder die zum Zeitpunkt ihrer Ermordung längst zwangssterilisiert waren. Letzteres macht besonders deutlich, dass es hier nicht um den Ausschluss von Erbanlagen gehen konnte, sondern um etwas Anderes. Die Patient*innenmorde sind eng mit dem Zweiten Weltkrieg verknüpft: Es ging nun um kriegswichtige Ressourcen, um Anstaltsraum, Personal und Nahrungsmittel. Wurden also die Morde der Psychiatrie, den Psychiater*innen im Sinne eines angeblich nationalen Interesses im Krieg aufgezwungen? Nein, keineswegs, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Gerade Reformpsychiater sahen in den Patient*innenmorden eine Möglichkeit, ihre Einrichtungen zu wahren Heilanstalten werden zu lassen – unter radikalstem Ausschluss derjenigen, deren Arbeitsfähigkeit man nicht auf medizinischem Wege wieder herstellen zu können meinte. Medizin und Politik, sie waren hier „Ressourcen füreinander“, und dies führte zu einer Psychiatrie, in der sich Reform und Massenmord, Heilen und Vernichten nicht nur nicht
ausschlossen, sondern in ganz besonderer Weise verschränkten. Dabei war die Entwicklung der inhumanen Rationalität eines technisch möglichst effektiven Massenmordens der logistische Vorläufer dessen, was wenig später in den Vernichtungslagern der Shoa eingesetzt wurde. Dies führt auch zu einem weiteren Punkt, den ich hier ansprechen möchte. Oftmals werde ich gefragt, ob nicht auch viele Menschen ermordet wurden, die zu Unrecht in der Psychiatrie waren, beispielsweise Regimegegner, die man so mundtot machen wollte. Es ist richtig, dass nicht selten soziale Auffälligkeit pathologisiert wurde, dass auch Menschen ermordet wurden, die man heute als „gar nicht krank“ ansehen würde. Dies gilt beispielsweise für Ernst Lossa, dessen Geschichte und dessen Ermordung in Kaufbeuren - Irsee der Kinofilm „Nebel im August“ 2016 einer größeren Öffentlichkeit bekannt machte. In gewisser Hinsicht ist er seither „das Gesicht“ der Nationalsozialistischen „Euthanasie“- Verbrechen. Das ist nicht unproblematisch. Ist es etwa schlimmer, wenn der Mord jemanden betraf, der „eigentlich“ gar nicht in die Psychiatrie gehörte? Haben nicht diejenigen, die langjährige, oft vor dem Nationalsozialismus eingewiesene und nach damaliger Praxis begründet in Anstalten lebende Menschen waren, das gleiche Lebensrecht und die gleiche Menschenwürde? Auch hatte das damalige Regime gegenüber Gegnern und sozial Auffälligen ja durchaus andere Möglichkeiten. Es gab Überschneidungen zwischen den unterschiedlichen Verfolgungsmaßnahmen, es gab regimekritische Menschen, die Opfer der so genannten „Euthanasie“ wurden. Mir ist aber wichtig hervorzuheben, dass die Kerngruppe der Patient*innenmorde tatsächlich diejenige war, für die Psychiater*innen nach damaliger Auffassung eine Fürsorgepflicht gehabt hätten. Die heutige Gedenkveranstaltung ist ihnen gewidmet. Es sollte keine Hierarchien zwischen den Opfergruppen geben, auch die Opfer der Zwangssterilisation und der verbrecherischen Forschung am Menschen sollte nicht hier subsummiert werden. Es geht um Verbrechen jeweils eigener Art, die ebenso Thema von Gedenkveranstaltungen sein sollten.
2. Ich komme nun zur besonderen Geschichte des Saarlands und der Patient*innenmorde.
Dabei stütze ich mich auf die hervorragende Arbeit von Christoph Braß, den Sie später selbst als Moderator der Podiumsdiskussion hören können. Er hat herausgearbeitet, dass sich für diese Region der Zusammenhang zum Krieg in eindrucksvoller Weise zeigt, auch in besonders hohen Opferzahlen. Mit dem Überfall auf Polen im September 1939 begannen, woran manchmal nicht ausreichend erinnert wird, die Anstaltsräumungen und Morde in den besetzten Gebieten. Zu den ersten Opfern gehörten die Patient*innen der im damaligen Ostpreußen und im besetzen Polen gelegenen Anstalten, die in Massenerschießungen ermordet wurden. Anstaltsräumungen im Sinne von Evakuierungen gab es aber auch an der „Westfront“, an der Grenze zu Frankreich. Dies betraf Baden, die bayerische Pfalz und eben das Saarland. Hier war die Besonderheit, dass die beiden staatlichen Anstalten nicht nur vorübergehend evakuiert wurden, wie die fast „benachbarte“ pfälzische Anstalt Klingenmünster, sondern aufgelöst. In Homburg und Merzig lebten zwischen 1.150 und 1.600 Menschen, viele Patient*innen aus kirchlichen Anstalten waren bereits im Vorfeld in die teils überfüllten staatlichen Anstalten verlegt worden. Nun wurden die meisten von ihnen, über 900 sind namentlich bekannt, in Anstalten der Nachbarprovinz Hessen-Nassau deportiert. Der dortige Anstaltsdezernent war der berüchtigte Fritz Bernotat, der die Provinz zur „Modellregion“ für die NS-Psychiatrie machte. Dort lag auch Hadamar, Tötungsanstalt sowohl der Aktion T4 im Jahr 1941 als auch des Hungersterbens bis 1945. Patient*innen aus Merzig und Homburg wurden nach Eichberg, Herborn, Weilmünster und Scheuern in Hessen-Nassau verlegt, eine Gruppe aus Homburg kam nach Uchtspringe in der Provinz Sachsen. Häufig war dies nur der Beginn einer Odyssee von Verlegungen, die über ein Netz von Zwischenanstalten nach Hadamar führten, nach Bernburg, oder die in Eichberg,
Scheuern, Weilmünster, Haina oder Merxhausen endeten. Nur zwischen 80 und 260 dieser Patient*innen überlebten die NS- Psychiatrie. Hinzu kommen Opfer unter den Neuaufnahmen aus dem Saarland, die nun auf dem Eichberg in Hessen-Nassau erfolgten, wo schon während der Aktion T4 die dezentrale „Euthanasie“ einsetzte. Reichweit lag die Zahl der Opfer bei über der Hälfte der Psychiatriepatient*innen, saarländische Patient*innen überlebten in weniger als einem Viertel der Fälle.
3. Zum Schluss möchte ich zumindest kurz eine Geschichte erzählen, die eines Berliner Psychiatriepatienten – der also dort gelebt hat, wo die die Morde zu einem großen Teil geplant wurden. Die Auswahl ist natürlich ganz subjektiv – jede der Geschichten ist es wert, erzählt zu werden. Zu dem Berliner Kutscher Karl Ahrendt habe ich einen besonderen Bezug, seit ich seine Akte im Bundesarchiv Berlin im Jahr 1999 das erste Mal gesehen habe. Sie dokumentiert nicht nur 31 Jahre Anstaltsleben, sondern enthält zahlreiche Zeichnungen, wie sie auch schon zuvor in der Heidelberger Sammlung Prinzhorn aufbewahrt wurden. Religiöse und militärische Motive, aber auch Karikaturen weisen einen Weg zur Subjektivität Karl Ahrendts, die jedoch niemals vollständig erschlossen werden kann. So viel wird deutlich: Er fühlte sich als ein hoher General, der sein Leben mit großer Würde im kasernenartigen Anstaltsalltag verbrachte. Sein diszipliniertes und würdevolles Verhalten wird noch kurz vor seinem Tod in der Akte festgehalten. Er wurde 1941 in Bernburg mit 87 Jahren ermordet.
Seine Kreativität im Anstaltsalltag begründete er so:
„Ich vor meine wenigkeit halthe demnach immer das Menschliche dasein in mier selpst aufrecht“.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!