Rede des Landtagspräsidenten Stephan Toscani:
Herr Ministerpräsident! Meine Damen und Herren Mitglieder der Landesregierung! Sehr verehrte Frau Dr. Knobloch! Herr Professor Rixecker! Liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich eröffne unsere Parlamentarische Gedenkstunde des Landtags des Saarlandes aus Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus und begrüße Sie dazu sehr herzlich.

Alljährlich halten wir an diesem Tag inne, um der Opfer der NS-Gewaltherrschaft zu gedenken. Wir denken an all die Kinder, Frauen und Männer, die dem Völkermord an den europäischen Juden zum Opfer gefallen sind - einem Menschheitsverbrechen, das Deutsche in deutschem Namen begangen haben. Wir denken an ermordete Sinti und Roma, Kriegsgefangene sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Wir erinnern an die Menschen, die aus politischen oder religiösen Gründen verfolgt und ermordet wurden. Wir erinnern an diejenigen, die sich mutig der NS-Diktatur widersetzt, die ihre Menschlichkeit bewahrt haben und die das mit dem Leben bezahlen mussten. Und wir erinnern an das Leid von Homosexuellen und Menschen mit Behinderungen. Vor ihnen allen verneigen wir uns.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit mehr als zwei Jahrzehnten gehört das Gedenken am 27. Januar zum Selbstverständnis unseres Landesparlaments. Und doch erleben wir heute eine Premiere: Ich danke den Fraktionen, dass sie einer Parlamentarischen Gedenkstunde zugestimmt haben. Wir freuen uns sehr, dass wir Charlotte Knobloch für unsere Parlamentarische Gedenkstunde als Rednerin gewinnen konnten. Charlotte Knobloch - geboren 1932 - ist Zeitzeugin. Sie hat in Deutschland überlebt und sie ist geblieben. Sie hat sich mit großem Engagement für die Aussöhnung eingesetzt und dafür, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder erblüht. Von 2006 bis 2010 war sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Nach wie vor ist sie Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Sehr verehrte Frau Knobloch, dem saarländischen Landtag ist es eine große Ehre, dass Sie heute zu uns sprechen. Herzlich willkommen in unserer Mitte!

(Anhaltender Beifall des Hauses.)
Vor drei Jahren hat der Landtag erstmals einen Beauftragten für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus gewählt. Professor Roland Rixecker übt dieses Amt seither mit hoher Kompetenz und enormem Engagement aus. Lieber Herr Professor Rixecker, im Namen des gesamten Hauses danke ich Ihnen, dass Sie heute zu uns zu sprechen.

(Beifall.)
Der Saarländische Rundfunk überträgt unsere Gedenkstunde im Fernsehen und im Hörfunk. Für diese Unterstützung danke ich dem Intendanten des Saarländischen Rundfunks, Martin Grasmück, ganz herzlich. Damit erreichen wir - gerade in Corona-Zeiten - viele Bürgerinnen und Bürger.

(Beifall.)
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei uns in Deutschland ist der 27. Januar ein besonderer Tag des Erinnerns. Für Jüdinnen und Juden, die aus Russland kommen - sie und ihre Nachfahren bilden ja die überwiegende Mehrheit in unseren jüdischen Gemeinden - ist der 9. Mai ein wichtiger Feiertag, der Tag des Sieges über Hitlerdeutschland im Osten, denn zu diesem Sieg haben jüdische Soldaten und jüdische Mitglieder von Partisanengruppen beigetragen. In Israel und in einigen anderen Ländern, wie zum Beispiel in den USA, ist der Gedenktag für die Shoa am 27. Nisan des jüdischen Kalenders. An diesem Tag wird der Märtyrer und der Helden der Shoa gedacht.
In Deutschland gedenken wir der Jüdinnen und Juden oft als wehrlose Opfer. In vielen Dokumentationen werden wir mit Bildern von Toten und fast verhungerten Menschen konfrontiert. Daneben SS-Mitglieder, überheblich und in gutsitzenden Uniformen. Was lösen diese Bilder in unserem Kopf aus? Beherrscht uns nicht auch heute noch das Bild, das die Nationalsozialisten transportieren wollten? Dagegen findet der jüdische Widerstand erst langsam Eingang in unsere Erinnerungskultur. Jahrzehntelang herrschte in Deutschland die Meinung vor, dass die Juden keinen Widerstand geleistet hätten. Präsent war allenfalls der Aufstand im Warschauer Ghetto. In seinem Essay-Band „Wir werden nicht untergehen“ betont Arno Lustiger: Der Mythos des feigen, des sich ewig wegduckenden Juden ist eine letzte Legende, die alle Phasen der Aufarbeitung der NS- Verfolgungsgeschichte überdauert hat. Nach wie vor präge sie unser Denken.
Die höchste Rechtsprechung der Bundesrepublik betonte Mitte der Fünfzigerjahre, als Widerstand sei nur jener Widerstand anzuerkennen, sei nur jener Widerstand der Erinnerung würdig, der aus dem Zentrum der Macht erfolgt sei, der auf den Umsturz des Gesamtsystems abgezielt habe. Dieser Kreis war Juden nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland nicht mehr zugänglich. Ich bin der Auffassung: Widerstand war nicht nur der Kampf mit Waffen, sondern jeder einzelne Akt der Selbstbehauptung, zum Beispiel Jüdinnen und Juden außer Landes zu schleusen, Kinder in Gastfamilien unterzubringen, Aufstände von Gefangenen in den Lagern. Als Widerstand sollte auch angesehen werden, sich der Verfolgung durch Flucht zu entziehen.
In der neueren historischen Literatur gibt es inzwischen viele belegte Widerstandshandlungen von rein jüdischen Gruppen, von gemischten Gruppen und von Einzelpersonen. Die Legende von „den Schafen, die sich zur Schlachtbank führen ließen“, ist widerlegt. Ein Beispiel: Seit Beginn der Judenverfolgung in Frankreich wurden zahlreiche jüdische Kinder in Kinderheimen und bei Gastfamilien untergebracht. Das wurde immer schwieriger, je länger die Besatzung dauerte. Darum schlossen sich in Frankreich mehrere Organisationen zusammen, um Kinder über die Grenze in die Schweiz zu schleusen. Gesteuert wurde die Aktion vom Mouvement de la Jeunesse Sioniste. Unterstützt wurden sie durch ein Netz von Grenzschmugglern und in der Schweiz von der sozialistisch-zionistischen Bewegung Haschomer Hazair. 1.300 Kinder und Jugendliche konnten allein in dieser Region gerettet werden. Viele der Retterinnen und Retter verloren dabei ihr Leben.
Nach 1935 sind aus unserer Region, dem damaligen Saargebiet, Jüdinnen und Juden nach Frankreich geflohen. Manche haben sich dort der Résistance angeschlossen. Sie haben sich der Résistance angeschlossen, um so den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Das war jüdischer Widerstand. Wir sollten ihn nicht vergessen!
(Beifall.)
Nach dem Krieg kamen viele dieser nach Frankreich geflohenen Juden zurück, um hier einen neuen Staat mit aufzubauen. Bereits im Frühsommer 1946 haben 40 überlebende Juden in Saarbrücken eine neue Gemeinde gegründet, die erste auf dem Boden des ehemaligen Deutschen Reichs. Im Januar 1951 wurde dann in Saarbrücken der erste Synagogen-Neubau nach dem Krieg eingeweiht. Es grenzt an ein Wunder, wir sind auch heute noch dankbar dafür.
Durch die Verfolgung seiner jüdischen Mitbürger hat Deutschland unendlich viel verloren. Die Kenntnis über jüdisches Alltagsleben, ihre Beiträge zu Literatur, Musik, Wirtschaft und Wissenschaft. Doch gerade mit dem laufenden Gedenkjahr „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ haben wir die Chance, jüdisches Leben neu zu entdecken, es besser zu verstehen - gerade auch das heutige jüdische Leben. Jüdisches Leben ist lebendig, facettenreich und voller Schwung. Jüdisches Leben ist in all seiner Vielfalt - wieder - ein fester Bestandteil unseres Landes. Ein Geschenk, das wir schätzen. Ein Geschenk, das wir schützen und bewahren wollen.
Der Landtag des Saarlandes und die Synagogengemeinde Saar arbeiten eng zusammen: Wir erinnern nicht nur gemeinsam an die dunklen Zeiten, sondern wir feiern auch zusammen, zum Beispiel beim fröhlichen Laubhüttenfest im vergangenen Jahr oder als wir an Tu Bischwat gemeinsam einen Baum jeweils vor der Synagoge und im Landtagsgarten gepflanzt haben - als Zeichen der Freundschaft und Verbundenheit. Liebe Frau Kunger, den Beitrag der Synagogengemeinde Saar zur Gesellschaft und zur Kultur in unserem Bundesland schätzen wir sehr.
(Beifall des Hauses.)
Wir sehen aber auch, dass Gefahr droht. Antisemitismus ist wie ein Seismograf, der anzeigt, wie es um eine Gesellschaft bestellt ist. Dieser Seismograf zeigt aktuell erhebliche Ausschläge, weil der Antisemitismus zunimmt. Der Antisemitismus beginnt mit vermeintlich kleinen Anfeindungen im Alltag. Es sind Grenzüberschreitungen, auch in der Sprache. Dagegen kann jeder Einzelne etwas tun: den Mund aufmachen, menschliches Gespür, Achtsamkeit und Wachsamkeit sind wichtig. Solange Synagogen von der Polizei geschützt werden müssen, solange auf Demonstrationen offen antisemitische Parolen skandiert oder israelische Fahnen verbrannt werden, solange Juden, die Kippa tragen, auf offener Straße angegriffen werden, so lange dürfen wir nicht ruhen. Das können, das dürfen und das wollen wir nicht akzeptieren!
(Beifall.)
Was können wir dazu beitragen, dass Jüdinnen und Juden sich bei uns nicht nur sicher, sondern wirklich angenommen und zu Hause fühlen? Indem wir zum Beispiel die vielfältigen Angebote der Synagogengemeinde auch außerhalb von Gedenktagen wahrnehmen. Indem wir darüber nachdenken, wie Schülerinnen und Schüler schon früh eine Synagoge kennenlernen. Indem wir sie mit jüdischem Leben vertraut machen, bevor sie in der Schule erstmals mit der Shoa konfrontiert werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die schreckliche Vergangenheit tragen wir Nachgeborenen keine Schuld. Aber wir haben eine Verantwortung - eine Verantwortung für den Umgang mit dieser Vergangenheit. Esther Bejarano, die im letzten Jahr verstorbene Zeitzeugin und Ehrenbürgerin der Stadt Saarlouis, hat uns als Vermächtnis mitgegeben - ich zitiere -: Ihr habt keine Schuld an dieser Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah. Und warum es geschah. - Ob wir uns erinnern und wie wir uns erinnern, ist darum ganz entscheidend, und es prägt unsere Zukunft. Lassen Sie uns den 27. Januar als Mahnung verstehen, dass wir uns für Respekt, Toleranz und Achtsamkeit in unserer Gesellschaft einsetzen. Verstehen wir den 27. Januar als Aufforderung, uns für Demokratie, Recht und Gerechtigkeit einzusetzen - immer und immer wieder.
- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.